Innovations-Paradigme „Elite vs. Alle“

Welches Innovations-Paradigma verfolgen Sie?

Und welches Innovations-Paradigma verfolgt Sie? Was als heiter formuliertes Wortspiel daher kommt, ist tatsächlich eine ganz essentielle Fragestellung bezüglich des Innovations-Umfeldes, in welchem Sie innovieren. In welchem Sie sich entweder bewegen, weil Sie müssen, oder welches Sie gestalten wollen. Wie so häufig klaffen auch hier Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander. Insofern lohnt sich ein ehrlicher Blick darauf, welche Faktoren Ihre Innovationen und Ihre Aktivitäten, Bestrebungen und Ziele bestimmen.

Mein Verständnis von „Innovations-Paradigma“

Aber fangen wir von vorne an: Wenn ich von Paradigma schreibe, dann meine ich eine grundlegende Sichtweise, ein Weltbild oder eine spezielle Brille, mit der Situationen, Menschen oder Dinge betrachtet werden. Häufig sind solche Blickwinkel nur implizit oder sogar unbewusst vorhanden, wirken aber sehr stark auf das Verhalten derjenigen, die sich in diesem Kontext bewegen.

Im Innovationskontext bedeutet dies, dass wir z.B. im Innovationsprozess stark von dem Paradigma geprägt sind, welches der Innovationskultur zugrunde liegt. Ebenso wird natürlich die Bewertung von innovativen Ideen durch die Brille bestimmt, mit der wir sie betrachten. Auch welchen Beteiligten wir kreative Leistungen und ergo konstruktives Denken zutrauen (und damit meine ich alles von Fragen, Gedanken und Vorschlägen, über Vorgehensweisen, hin zu Ergebnissen und Produktentwicklungen), ist abhängig davon, in welcher Welt(sicht) wir leben. Ergo hat unser Innovations-Paradigma einen immensen Einfluss auf die Art und Weise, in der wir innovieren.

Aus meiner Sicht gibt es verschiedene Dimensionen, auf denen sich Innovations-Paradigmen bewegen können. Manche dieser Dimensionen sind eher wertfrei und die Ausprägung ist abhängig von der Passung zum Unternehmen, der Bedarfe und Ziele. Dazu zählt z.B. das Paradigma der offenen vs. der geschlossenen Innovationskultur. Bei anderen Paradigmen ist die eine Ausprägung deutlich innovationsförderlicher als die andere. Dazu gehört z.B. das Paradigma der innovativen Elite vs. alle innovieren.

„Jeder Mensch ist kreativ!“ (Paradigma „Elite vs. Alle“)

Immer wieder begegnet mir in Ideen-Workshops die Aussage „Ich bin nicht kreativ!“. Es ist erschreckend, wie viele Menschen das von sich  denken. Ich  kann nur immer wieder dagegen halten: „Jeder Mensch ist kreativ!“ Ja, es stimmt schon, dass wir in  unserem Schulsystem Kreativität und produktives Denken, Lösungsorientierung und Perspektivwechsel nicht fördern. Und dass Kindern diese wichtigen Fähigkeiten sogar schlimmstenfalls „aberzogen“ werden. Aber der Mensch bleibt dennoch ein kreatives Wesen. Man muss nur die anerzogenen, zähen Schichten der gesellschaftlichen Anpassung irgendwie wieder loswerden. Oder Wege finden, sie zumindest zeitweise durchlässig zu machen. Ein paar Anregungen dazu gibt es am Ende des Artikels im Abschnitt „Also, was tun?“.

Verschiedene Kreativitätstypen um konstruktiv zu denken

Aber es gibt tatsächlich noch einen zweiten Grund für den hartnäckigen Glaubenssatz, nicht kreativ zu sein: Es gibt sehr unterschiedliche Typen der Kreativität. Wo der eine Mensch unglaublich gut darin ist, Zusammenhänge aufzubrechen, zu hinterfragen oder Problemstellungen auf den Grund zu gehen, ist der Nächste eher der Typ, der Ideen am laufenden Band „raushaut“. Wieder eine Andere findet besonders Spaß daran, solch unausgegorene Ideen ins Reine zu zeichnen: konkret zu überlegen, wie die Idee praktisch aussehen könnte und wo man vielleicht noch ein wenig feilen muss, damit alles Hand und Fuß hat. Und dann kommt der entscheidende Punkt, um aus Spinnereien Realität werden zu lassen. Die Ideen müssen umgesetzt werden. Dies bedarf wiederum einer ganz eigenen Kreativität, nämlich einer sehr pragmatischen, strukturierten Sichtweise, einer findigen Person, die es immer wieder schafft, kreativ kleinere und größere Hürden bei der Umsetzung aus dem Weg zu räumen.

Sie kennen das sicher aus dem privaten oder beruflichen Umfeld, dass Menschen sich als unkreativ einsortieren. Manchmal kommt dann ein Nachsatz, wie „Ich kann nur doofe Fragen stellen…“ oder (was eine Freundin von mir gern einmal sagt) „… denn ich bin immer total pragmatisch!“. Sie ahnen es schon: das ist eine Frage des kreativen Typs, nicht der kreativen Fähigkeiten. Ich für meinen Teil bin häufig baff, welche kreativen Ideen aus diesen vermeintlich unsinnigen Fragen oder „nur“ pragmatischen Talenten entstehen.

Was dabei allerdings entscheidend ist, dass wir dazu neigen, Menschen aufgrund unserer Schablonen zu bewerten1. Und im Falle von Kreativität haben wir eine doppelt schädliche Definition von dem entwickelt, was als kreativ gilt. Üblicherweise werden die Menschen mit vielen, schrägen, bunten und häufig verrückten Ideen als kreativ bezeichnet. Die Paradiesvögel, die Revoluzzer, die Show-Stars, welche nicht ins Schema passen, die Lebens-Künstler. Viele von denen sind sicherlich auch hochgradig kreativ. Aber da hört Kreativität eben nicht auf. Da fängt sie erst an. Oder eigentlich fängt sie schon davor an, nämlich bei den kreativen Fragen.

Ausgrenzung verschwendet Ressourcen

Somit grenzen wir zum einen einige essentiell wichtige Tätigkeiten und Talente in unserer populär(wissenschaftlich)en Definitions-Schablone von Kreativität aus – denn jeder Innovationsprofi weiß, dass man ohne eine gute Problemdefinition oder Fragestellung nicht zum Ziel kommt, genauso wenig wie man ohne eine solide Umsetzung irgendeine Idee Wirklichkeit werden lassen kann. Ohne eine gute Vorbereitung der Ausgangssituation, sei es durch Recherche, Kundenverständnis, Kenntnis der Historie etc., passiert es zu leicht, dass man am Ziel vorbei innoviert. Und wenn eine rekordverdächtige Idee im Implementierungssumpf steckenbleibt, war sie einfach nur eine teure, spinnerte Idee. Mehr nicht.

Zum anderen verhindern wir damit nach wie vor, dass Kreativität und Innovation ernst genommen werden. Ja ja, ich weiß, dass Innovation in aller Munde ist. Jedes Unternehmen und jeder Chef schreibt sich das gerne auf die Fahne. Und jeder Bewerber lässt seine kreativen Lösungskompetenzen unauffällig im Interview durchscheinen. Aber wie weit ist es denn wirklich her, mit unserer Offenheit gegenüber neuen Ideen? Denn es ist erwiesen, dass der Mensch Neuem von Natur aus skeptisch gegenüber steht. Wenn nun eine „Kreative“ ein paar verrückte Ideen äußert, kommen wir uns alle super tolerant vor, wenn wir sagen: „Ja, tolle Ideen. Solche Denkanstöße brauchen wir alle als Inspiration. Und nun zurück zum echten Leben. Ich muss weiter ernsthafte Arbeit erledigen. Für so fluffigen Kreativitätskram habe ich keine Zeit.“ Und dann lassen wir diese Ideen verhungern. Und die „Kreative“ gleich mit. Dabei muss ich immer an den Witz vom Physiker denken, der einen sprechenden Frosch findet.2

Innovation von einem anderen Stern

Wenn wir also den „Kreativen“ eine Fähigkeit zuschreiben, die sie in ein Paralleluniversum verbannt, dem wir uns angeblich nicht nähern können, weil wir ja nicht (auf diese Weise) kreativ sind, den „Kreativen“ aber die nötigen Ressourcen (nämlich die anderen Fähigkeiten, die im kreativen Prozess benötigt werden) verwehren, verhindern wir den Erfolg von kreativen Ideen, behindern Innovationen. Im klassischen Sinne einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Klar, dass solche Ideen dann auch keinen so tollen Einfluss auf die Umsatzzahlen haben.

Manche Unternehmen machen hier einen super Job, investieren nachhaltig in ihre Innovationskultur, fördern Ideen und Denker, schaffen Raum für kreatives, produktives Arbeiten und ernten dann auch die entsprechenden Früchte ihrer Bemühungen. Deren erfolgreiche Innovationen wirken auf konservativere Unternehmen dann häufig, als seien sie von einem anderen Stern.

Andere veranstalten hingegen massig Ideenkampagnen, Innovationswettbewerbe und Kreativ-Workshops und drillen dann aber im Alltag wieder auf Ergebnisse. Wohlgemerkt gemessen in Umsatzzahlen, Projektlaufzeiten, Budget-Einhaltungen und Fehlerfreiheit. Und spätestens im Jahresgespräch und bei den Beförderungen zählen wieder nur die alten Disziplinen, wie Durchsetzungskraft, Entscheidungsstärke, Stressresistenz, Selbstvermarkungsfähigkeit oder klare Zielvorgaben. Die sind alle wichtig, und noch viele mehr. Aber Dinge wie die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, zielführende Problemdefinition oder gesunde Risikobereitschaft werden nur dann gewürdigt, wenn das Projekt, das Team oder das Produkt betriebswirtschaftlich erfolgreich waren.

Gefährliche Schlussfolgerungen aus dem „Elite-Paradigma“

Wenn die Vorgabe, innovativ zu sein, nur ein Lippenbekenntnis ist, hat das zum Resultat, dass viele Mitarbeiter das Gefühl bekommen, dass sich neu denken nur dann lohnt, wenn der Erfolg garantiert ist. Oder nur dann erwünscht ist, wenn man halt ein kreatives Supertalent ist, das sich in einer Stabsabteilung kreativen Schnickschnack ausdenken darf. Dass sich das Unternehmen kein Experimentieren leisten kann, und lieber andere am Markt innovieren lässt. Dass Innovation und Kreativität eine ganz schwierige Sache ist, und deswegen nicht allen erlaubt wird, sondern der Produkt-Entwicklungsabteilung vorbehalten ist. Es entsteht das Gefühl, dass Innovation zu anstrengend ist, gleichsam dem oben erwähnten Physiker, dem der Zeitaufwand, glücklich zu sein, zu hoch ist. Die Botschaft lautet, dass sich das Unternehmen lieber in bekannten Gefilden bewegen, Veränderungen am Markt aussitzen und am Ende den Niedergang „brav“ hinnehmen will. Wenn Schusters-Leisten, bei denen man geblieben ist, obwohl der Schuh massiv gedrückt hat, das Loch halt doch nicht mehr flicken können, dann musste man sich zumindest nicht von bequemen Gewohnheiten lösen.

Es heißt auch, dass Innovation und Kreativität vom Unternehmen als zu teuer erachtet werden. Es zeigt sich aber, dass der Preis, nicht zu innovieren, viel höher ist. Auf die Frage, wie man es sich als Unternehmen leisten kann, zu innovieren, antworten die Experten heutzutage „Wie kann sich ein Unternehmen leisten, nicht zu innovieren?!“ Und die großen kreativen Vorbilder unserer Zeit gehen davon aus, dass „aufgeklärter Versuch und Irrtum das Planen des tadellosen Verstandes überflügelt“ (David Kelley von Ideo “Enlightened trial and error outperforms the planning of flawless intellects“)

Alle an Bord – es weht ein innovativer Wind!

Die entscheidende Erkenntnis an dieser Stelle ist also, dass nicht zur Debatte steht, ob innoviert wird, sondern wie. Es bedarf einer integrierenden kreativen Kultur, quasi einer basisdemokratischen Innovations-Bewegung, bei der alle mit machen und an Bord geholt werden. Und zumindest langfristig sollten sich nicht einige wenige Autoritätspersonen aufschwingen, die Richtung zu bestimmen, sondern alle gemeinsam nach aktueller Lage entscheiden, was zu tun ist und daran arbeiten, dieses Ziel schnell und sicher zu erreichen. Nur wenn alle ihren Beitrag leisten und das Schiff, das sie segeln, gemeinsam steuern, kann auch sichergestellt werden, dass es optimal im Wind liegt um vorwärts zu kommen.

Also, was tun?

Was muss passieren, damit das kreative Denken, das Problemlösen und Innovation nicht einer kleinen Elite-Gruppe vorbehalten sind, die am Ende des Tages vielleicht die falschen Fragen „beantworten“ und ihre Ideen ohne Hilfe der anderen Kreativitätstypen nicht vernünftig in die Realität umsetzen können? Das lässt sich natürlich nicht abschließend beantworten, aber es gibt ein paar Ansatzpunkte:

1.     Es muss laut und deutlich kommuniziert werden, dass alle MitarbeiterInnen mit im kreativen Boot sitzen (sollen). Und dafür muss die Unternehmensführung nicht nur davon reden, sondern sie muss es auch vorleben. In dem Fall muss der Kapitän also quasi als erstes auf’s Schiff drauf!

2.     MitarbeiterInnen und Führungskräfte müssen sich darüber klarwerden, welches ihre Präferenzen im kreativen Prozess sind. Nur so können sie ihre Stärken einbringen.

3.     Ideen und das Hinterfragen des Status quo müssen von allen Bereichen der Organisation ernst genommen werden. Gerade von denjenigen, die sich sonst eher in der „Realität“ bewegen, ist Expertise gefragt, um realen Nutzen aus „fluffigen Kreativitätskram“ zu ziehen.

4.     Innovationsprojekte und „normale“ Projekte unterscheiden sich maßgeblich. Es gilt also z.B. entsprechende Arbeitsweisen, Bewertungskriterien und Strukturen zuzulassen, die dem jeweiligen Ziel dienlich sind.

5.     Produktives Denken, Innovationsprozesse, Techniken zur Ideenfindung und Ideenstärkung sollten zum Werkzeug von allen Teams dazugehören (und nicht der Marketingabteilung vorbehalten sein). Ein Innovationsworkshop ist kein Bonbon für erfolgreiche Teams, sondern ein effektives Instrument um Produktideen zu entwickeln, Kunden-Probleme zu lösen und Herausforderungen zu adressieren, denen das Unternehmen begegnet. (zurück zum Anfang)

Gibt es in Ihrer Organisation eine „kreative Elite“? Wie wirkt sich das für Sie aus? Und, ganz wichtig: welche Themen zu Innovationskultur würden Sie interessieren? Ich freue mich auf Ihre Kommentare und Anregungen.


  1. Dieses Phänomen gehört zu dem Bereich der Denk-Täuschungen (vgl. „illusory thinking“ z.B. in Myers, D.G. (1999). Social Psychology (S.113 ff.). Boston: McGraw Hill.), die uns Zusammenhänge wahrnehmen lassen, wo keine sind, oder uns vorgaukeln, dass es wir die Kontrolle haben, oder uns nahelegen, Situationen nach „bewährten Mustern“ zu bewerten, auch wenn diese nicht zutreffen. Dies alles mit dem Ziel unseres Gehirns, die Welt um uns herum zu vereinfachen.
  2. Einem Physiker springt ein Frosch vor die Füße. „Küss mich, ich bin eine verwunschene Prinzessin!“ Der Physiker lächelt und steckt den Frosch in die Manteltasche. Der Frosch fängt an zu zappeln. Als der Physiker ihn daraufhin wieder aus der Tasche nimmt, sagt der Frosch „Hey, ich habe gesagt, du sollst mich küssen, ich bin eine wunderschöne verwunschene Prinzessin. Wenn du mich zurückverwandelst, mache ich dich glücklich!“ Der Physiker lächelt und steckt den Frosch wieder in seine Manteltasche. Der Frosch wird nun echt ungeduldig und zappelt wieder wie verrückt. Der Physiker nimmt ihn wieder aus der Tasche. Der Frosch sagt vorwurfsvoll: „So küss mich doch, ich bin wirklich eine wunderschöne verwunschene Prinzessin, und ich habe dir versprochen, dich glücklich zu machen. Warum küsst du mich nicht?“ Darauf der Physiker: „Also, für eine Freundin hab ich echt keine Zeit, aber ein sprechender Frosch, das ist cool!“